Manchmal wird das Image einer Stadt, vor allem in seiner internationalen Reichweite, vollständig von einem einzigen Ereignis bestimmt. Millionen von Menschen denken, wenn sie nur den Namen Maastricht hören, an Europa. Am 7. Februar 1992 wurde hier der Vertrag von Maastricht unterzeichnet. Damit wurde unter anderem die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union formal gegründet, was bis heute als ein Meilenstein für den europäischen Integrationsprozess gewertet wird – wenn auch inzwischen mit deutlich weniger Euphorie als zum damaligen Zeitpunkt. Auch wurde beschlossen den Euro als europäische Währung zu verwenden.
Maastricht, im Dreiländereck Niederlande-Belgien-Deutschland gelegen, ist in vielerlei Hinsicht eine europäische Stadt. Sie profitiert von ihrem historischen Stadtbild, von ihren rund 2.000 Baudenkmälern und ihren 20.000 Studenten aus ganz Europa – vielen davon aus Deutschland –, bei gut 120.000 Einwohnern. Ihre katholische Tradition und der direkte Einfluss der wallonisch-belgisch-französischen Kultur und Lebensart ist in vielen Dingen deutlich spürbar.
GUT LEBEN möchte gern einmal zu einem kleinen ersten Rundgang einladen, auf dem von Anfang an versucht wird, die Schönheit Maastrichts nicht nur zu bewundern und zu konsumieren. Die Schönheit einer Stadt ist keine „naturgegebene“ Selbstverständlichkeit. Das vielleicht Schönste an der Schönheit ist ja, dass sie nichts von Ihrem Reiz verliert, wenn man dies weiß – und sie so immer wieder neu entdecken kann.
Von der Schönheit und dem besonderen Flair der Stadt wissen auch viele Touristen, die Maastricht nicht nur wegen seiner historischen Sehenswürdigkeiten lieben, sondern – ja, vielleicht gerade deshalb – weil selbst der gewaltige Ansturm von 4,5 Millionen Besuchern pro Jahr einfach nicht vermag, Maastricht hässlicher zu machen.
Wie schafft diese Stadt das? Zumal sie uns bei der Anreise im Auto begrüßt mit einem Tunnel Eine c.a. eine Millarde Euro lässt man es sich kosten, unzeitgemäße Blechlawinen ab November 2016 auf intelligente und stadtbildschonende Weise verschwinden zu lassen: Gleich zwei Tunnel sind übereinander gebaut. Im unteren soll die durch Maastricht führende Europastrasse E 25 verlaufen, die Amsterdam mit Genua verbindet. Die Etage darüber ist dem regionalen Verkehr gewidmet. Überirdisch entsteht dagegen: eine grüne Allee.
Planungsziel Schönheit.
Die etwas ungewöhnliche Hinleitung zu unserem Stadtbesuch gibt bereits eine erste Erklärung für die besonderen städtebaulichen Qualitäten unseres Ziels: Maastricht ist eine Bühne für Menschen, nicht für Autos. Der Stadt ist bewusst, ein Glücksfall zu sein. Maastricht gilt nach Amsterdam als bedeutendstes Zeugnis urbaner Baukunst in den Niederlanden. Dabei lebt die Stadt aber nicht etwa nur von der Konservierung ihres reichen Erbes. Sie tritt vielmehr in jeder Generation ihr Erbe an – und macht etwas daraus, mit viel erlerntem historischen Gespür und Bewusstsein. Das Geheimnis Maastrichts liegt in seinem Balanceakt zwischen erhaltendem Respekt und Mut zur Erneuerung. Was das ganz konkret heißt, erläutert uns Hans Hoorn. Der Stadtsoziologe konnte über Jahrzehnte in seinen Funktionen als Vorsitzender der Stadtgestaltungskommission und stellvertretender Leiter des Stadtentwicklungs- und Liegenschaftsamts maßgeblich an der heute erlebbaren Qualität des Maastrichter Stadtbildes mitwirken.
Doppeltes Glück.
„Maastricht hatte nicht nur das Glück, keine Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg erlebt zu haben. Es hat auch die Phase planerischer Phantasien in Richtung ,autofreundlicher‘ Städte ziemlich unbeschadet überstanden.“ Hans Hoorn ist stolz darauf, „dass Maastricht eine Stadt ist, in der auch die planerischen Versehen aus dieser Zeit recht konsequent korrigiert wurden.“ Gern zeigt er Fotos vom Abriss eines massiven Beton-Parkhauses in der Innenstadt. „Von den fünf Brücken, über die das historische Zentrum zu erreichen ist, sind inzwischen drei von Autos befreit. Ein Großteil des Verkehrs wird über den Ring um die Innenstadt geführt. Fahrzeuge, die das Zentrum erreichen, verschwinden dort nahezu vollständig in Tiefgaragen. Wo seit 1930 eine Stadtautobahn verlief, einen Tunnel – und darüber eine Flaniermeile und Uferpromenade.“ Ein weiteres exponiertes Beispiel ist der große Platz rund um das historische Rathaus. Hier kann man heute über den beliebten Markt – und Trödelmarkt – schlendern, wo sich früher ein Parkplatz befand.
Keine Anpassungsarchitektur.
An vielen Orten in Maastricht finden sich inmitten einer Umgebung aus wertvollen und geschützten architektonischen Geschichtszeugnissen auch moderne Gebäude höchster Qualität. Dahinter steht eine programmatische Überlegung: „Unsere Stadtgestaltungskommission hat allzu ehrfürchtige ,Anpassungsarchitektur‘, deren einziges Qualitätskriterium ja darin bestünde, nicht zu stören, immer gerne abgelehnt. Das war uns zu wenig.“ Um auch heute weiterhin selbstbewusst „historische Architektur“ zu realisieren, so macht uns Hans Hoorn klar, „brauchen wir eben Neubauten, von denen man in hundert Jahren sagen wird: ,Das ist wertvolle, geschützte Architektur aus dem Jahre 2020.‘ – Und das erreichen wir nur über aufwertende Kontraste.“
Kirchen und Klöster in neuer Funktion.
Typisch für Maastricht sind tatsächlich zum Teil atemberaubende Kombinationen aus Alt und Neu. Einige der zahlreichen Klöster und Kirchen wurden mit neuen, historisch „kontrastierenden“ Funktionen gefüllt. Nicht nur das Stadtarchiv und einige Fakultäten der Universität befinden sich in historischen Hüllen. Auch studentisches Wohnen hat sich in ehemals sakralen Räumen ausgebreitet. Ein gelungenes Beispiel ist zu entdecken, wenn man vom Capucijnengang, einer kleinen Parallelgasse der Grote Gracht durch eine Einfahrt in den dahinterliegenden Innenhofbereich vordringt. Hier findet man alles in einem Ensemble vereint: moderne Wohnarchitektur, eine historische Kirche mit modernen Studentenappartements und weitere Studentenwohnungen in Klostergebäuden.
Korbsitzlandschaften.
Unser Experte für das urbane Gesamtkunstwerk Maastricht ist nicht darauf aus, mit den großen und spektakulären jüngeren Maastrichter Bauten von internationalen Architekturgrößen wie Mario Botta oder Aldo Rossi zu beeindrucken. Aber gerade die Hinweise Hans Hoorns auf vermeintlich kleine planerische Weichenstellungen eröffnen einen neuen Blick auf das Stadtbild: „Nehmen wir ein gut wahrnehmbares Beispiel: die Bestuhlung der Stadt. Früher gab es hier das übliche zufällige Durcheinander von Formen, Farben und Materialien: grellbunte Massen-Plastikmöbel und wenige Schritte entfernt rustikale Holzbänke oder nüchterne Designer-Sessel. Heute sehen Sie überall Korbstühle.“ Das Ergebnis überzeugt sofort. Aber wie ließ sich diese Idee umsetzen? Die Antwort des Stadtsoziologen ist ganz lapidar. „Die Gestaltungskommission liebte einfache politische Lösungen: Wer Korbsessel aufstellt, erhält die Genehmigung für seine Außenterrasse. Wer etwas anderes möchte, muss dafür die Genehmigung der Kommission beantragen.“ Auch auf den nächsten kritischen Einwand der Gastronomen – die hohen Kosten – war man vorbereitet: „Wir hatten im Vorfeld bereits mit den verschiedenen Bierfirmen verhandelt und konnten den Wirten antworten: Die Brauereien bezahlen das Mobiliar.“
Ein bekanntes Beispiel für die erzielte Wirkung gibt der baumbestandene Platz vor dem mächtigen Westwerk der romanischen Liebfrauenkirche. In einer Umfrage gewann dieser Platz mit seinen Restaurants, Cafés und Bars am Onze Lieve Vrouweplein die Herzen der Niederländer, noch vor allen Plätzen in Amsterdam, den Haag und Utrecht. Die Frage lautete: Wo würden Sie am liebsten mit Ihren Freunden ausgehen, um unter freiem Himmel einen schönen Abend mit Essen und Trinken zu verbringen? – Der Bereich vor der massiven Steinfassade der Basilika steht hierfür nicht zur Verfügung. Die Umsatzziele der Gastronomen müssen sich der Wirkung der Architektur unterordnen.
Ein Erfolgsmodell und seine Grenzen.
Die historische Innenstadt Maastrichts ist voll von Zeugnissen der Entscheidungen der fünfköpfigen Gestaltungskommission, deren personelle Zusammensetzung übrigens sehr bewusst gewählt wird: Sie besteht nahezu vollständig aus ortsfremden Experten und Bürgern, zur Vermeidung von Interessenskonflikten. Hans Hoorn nennt einen weiteren Punkt: „Politiker kommen nicht in die Kommission. Und sie sind zufrieden damit. Dieses Prinzip hat sich über lange Zeit bewährt. Meine Erfahrung war, dass man bewusst auf unsere Unabhängigkeit setzte – und mit wenigen Ausnahmen unseren Empfehlungen gefolgt ist.“
Dann hören wir staunend, dass dieses Modell in rund 130 niederländischen Städten, also etwa 80 Prozent, auf ungewöhnlich klare Weise architektonische Qualität „erzwingt“.
Bleiben wir aber zum Schluss realistisch: Die Macht potenter Investoren gibt es auch in Maastricht. Das Shopping- Center Mosae Forum, zentral zwischen Maas und dem Markt gelegen, lockt mit genau den Qualitäten, die wir in Maastricht soeben zu schätzen gelernt haben: „Hier“, so verspricht die Webseite, „treffen sich jahrhundertealte Geschichte und moderne Architektur.“ Als der Projektentwickler aber befürchtete, die Kunden auf der Parallelstraße könnten eventuell am neuen Center vorbeilaufen, setzte er gegen den Willen der Stadtgestaltungskommission durch, dass mitten durch ein denkmalgeschütztes Gebäude mit einer wundervollen Fachwerkstruktur aus dem 16. Jahrhundert hindurch – über zwei ganze Etagen – eine Passage geschlagen wurde. Für Hans Hoorn ist das ein planerisches Trauma. Aber letztlich bleibt er auch hier niederländisch gelassen: „Ab und zu geht überall etwas schief – aber Sie können trotzdem gerne wiederkommen!“
Autor: Klaus Vatter
